Julia Kristeva

Von Ute Vorkoeper

Julia Kristeva ist ein besonderer Fall. Auch sie ist ein „Mädchen aus der Fremde“. Heinrich Blücher hatte seine Frau Hannah Arendt nach einem Gedicht von Schiller so genannt. Und nun ist der bulgarischen Philosophin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin, die seit 1966 in Paris lebt, in Bremen der Hannah Arendt-Preis für politisches Denken verliehen worden. Wie die Namensstifterin des Preises ist sie eine Frau, die sich nur schwer verorten und einordnen lässt. Wie Arendt zuvor, schreibt Kristeva ihre wichtigsten Texte nicht in ihrer Muttersprache, sondern in der Sprache des Landes, in das sie aus politischen und persönlichen Gründen ging.
Die Denkerinnen verbindet aber noch mehr: Sie haben beide den Glauben an die politische Befähigung der Menschen, an die Potenziale des Denkens und an die Liebe als Grund des Lebens nie verloren. Die deutsche Jüdin Arendt hörte auch im Angesicht des nationalsozialistischen Terrors, der persönlichen Tragödie und Verluste niemals auf, über die politische und denkerische Freiheit der Menschen zu sprechen. Und Julia Kristeva hat ihren linken Widerstandsgeist der 1968er Zeit über die Ernüchterungen und die aufschreckenden Erkenntnisse der 1970er und 1980er Jahre in gewandelter Form ins neue Jahrtausend gerettet.
In ihrem vielschichtigen, aus theoretischen und psychoanalytisch-praktischen Perspektiven geschriebenen Werk hat Kristeva ein Konzept der Revolte entfaltet, das nicht länger auf radikale gesellschaftliche Umwälzung setzt. Sie trennt das Wort durch einen Bindestrich in Re und Volte, und übersetzt es im Rückgriff auf den augustinischen Begriff der „rückschauenden Umkehr“ in die Gegenwart. Mit der Trennung tritt das „Wieder“ hervor. Der zweite Wortteil „volte“ steht im Französischen für „rasche Wendung“, „Schleife“ und, wie das deutsche Fremdwort, für „Kunstgriff“.
Revolte als besinnliche Rückschau, Umwälzung als Kunstgriff? Dieses Missverständnis kommt nur bei einer oberflächlichen Lektüre auf. Denn Kristevas Re-volte sucht keine Idyllen, findet weder verlorene Werte noch letzten Sinn. Die psychoanalytisch denkende Philosophin bezieht das Unbewusste, das unserer symbolischen, primär männlichen Ordnung Vorausgehende und das Verdrängte in die Umkehr ein. Hier sieht sie den Grund der Sinngebung und den Grund für die kreative Umgestaltung des Bestehenden. Sie nennt diesen Bereich, der vor der Sprache liegt, „das Semiotische“ („das Zeichenhafte“), mithin „das Mütterliche“, das Magie, Poesie und Sinn in der Sprache ermöglicht. Im Austausch mit dem Semiotischen erst kann sich „die Revolution der poetischen Sprache“ ereignen – so der Titel von Kristevas zentralem Buch der 1970er Jahre. In dieser Re-volte des Symbolischen durch das Unbewusste (und umgekehrt), liegt nach Kristeva die Freiheit des einzelnen Menschen begründet.
Ein schlagendes Beispiel für diese Art der Freiheit ist der Weg der Philosophin selbst, die 1966 völlig unbekannt und ohne jeden Kontakt in Paris eintraf und mit großem Willen, denkerischer Genauigkeit wie revoltierendem Geist in die führenden Denkerkreise einbrach. Sie wurde gefördert von Claude Levi-Strauss, war oder ist in Freundschaft verbunden mit Roland Barthes, Umberto Eco und der Literatengruppe Tel Quel, die sie mit begründete, und sie stand im Austausch mit Jacques Derrida und Michel Foucault. Aber sie wurde nicht einfach in diese Männerzirkel aufgenommen, was an sich schwer genug gewesen sein muss, sondern ihr gelang es innerhalb dieser akademischen männlichen Ordnung bislang unbedachte psychoanalytische Konzepte von Mütterlichkeit, Glauben und Liebe zu Gehör zu bringen und sie bis heute im Gespräch zu halten.
Doch kann man ein Denken, das von der Psychoanalyse und vom einzelnen Menschen ausgeht, auch politisch nennen? Julia Kristeva beweist es. Ihre Sorge gilt stets dem Leben und Überleben der Menschen, dem physischen ebenso wie dem psychischen Überleben in einer von Krieg, Gewalttätigkeit und Fundamentalismus einerseits, von Funktionslogik, Robotisierung und Entertainment andererseits bedrohten und zersetzten Welt. „Nur wer ein psychisches Leben hat, lebt. Ob unerträglich, quälend, kränkend oder jubelnd, dieses psychische Leben eröffnet den Zugang [...] zum Körper und zu den anderen. Die Seele macht handlungsfähig“, schreibt sie in der Einleitung ihrer Aufsatzsammlung Die neuen Leiden der Seele. In ihrer Bremer Preisrede hat sie diese Auffassung zum verbindenden Motto mit der politischen Denkerin Hannah Arendt gemacht. Arendt insistierte auf die Pluralität der Meinungen und eine politischen Welt, die diese nicht nur zulässt, sondern hörbar werden lässt. Kristeva bringt Arendts Thesen mit ihrem eigenen Beharren auf die Pluralität der Seele in einen fruchtbaren Vergleich.
Dass ein beseeltes Leben, ebenso wie eines, in dem das Äußern der eigenen Meinung zum Alltag gehört, notwendig immer ein konfliktreiches Leben ist, daran erinnern beide Denkerinnen unentwegt. Ohne Konflikt und ohne Scheitern ist für sie Freiheit undenkbar. Sie kommt erst gar nicht auf, wenn man sich entzieht, Nicht-Angriffs-Pakte schließt oder für den eigenen Frieden Länder oder einzelne ethnische Gruppen verschachert.
Julia Kristeva findet in Bremen en passant ein treffendes Beispiel, wenn sie das Gespräch zwischen dem damals Noch-Kardinal Joseph Ratzinger und dem Philosophen Jürgen Habermas als "Gentlemen Argreement" bezeichnet, da sich beide am Ende gegenseitig die friedliche Koexistenz von Glauben und Vernunft versichern. Eine solche Koexistenz aber kann nach Kristeva allenfalls vorgetäuscht werden - beispielsweise im Plappern der westlichen Entertainment- und Technowelt. Ansonsten ist ein Nebeneinander unmöglich, da Glaube und Vernunft nicht strikt getrennt voneinander existieren. Sie treten immer - meist unbewusst - ineinander verzahnt auf und genau diese Verzahnung führt zu unvorhersehbaren Kollisionen.
Solche Kollisionen kann ein politischer Raum aushalten, der jeden einzelnen als Handelnden anerkennt, dessen Ordnung gefügt, aber nicht fundamental festgeschrieben ist. Und genau hier liegt das größte Problem, das Julia Kristeva am Ende ihrer Rede zu einem Appell veranlasst: Sie fordert dazu auf, gegen den "Ruin der Welt" Hannah Arendts Entwurf eines politischen Raums der Freiheit wieder zu beleben.
Denn schlimmer als die Banalität des Geplappers ist die Indifferenz und Zerrüttung der politischen Verhältnisse, der politischen Räume an unendlich vielen Stellen der Welt. Wo die symbolische Ordnung vollends außer Kraft gesetzt ist, da kann keine Re-volte mehr stattfinden. Stattdessen herrscht Sprachlosigkeit, eine Sprachlosigkeit, mit der besonders Frauen über die Jahrhunderte gelebt haben und die in Isolation und tödliche Verzweiflung führen kann. „Eine Frau hat nichts zu lachen, wenn die symbolische Ordnung zusammenbricht.“ schreibt Julia Kristeva 1974 in ihrem ersten Bucherfolg Die Chinesin, und diese Erkenntnis scheint aufs Brutalste in den Krisenregionen des Nahen Osten bewahrheitet.
Afghanistan ist ein besonders erschreckendes Beispiel für ein zwischen Glauben, Vernunft und Großmächten zerriebenes, desolates Land. Hier kümmern sich Ärzte und Aktivisten der Organisation Humani Terra um – versehrt überlebende - Frauen und die Familien der Frauen, die keinen anderen Ausweg aus Isolation und Sprachlosigkeit gesehen hatten, als sich öffentlich zu verbrennen. Julia Krista hat der Organisation ihr Preisgeld gespendet.
Madame Bovary

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