Ingeborg Bachmann

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Abschied

Das Fleisch, das gut mit mir gealtert ist,
die pergamentene Hand, die meine frisch hielt,
sie soll auf dem weißen Schenkel liegen,
das Fleisch sich verjüngen, augenblicksweise,
damit hier rascher der Verfall vor sich geht,
Rasch sind die Linien gekommen, etwas gesunden,
schon alles über der straffen Muskulatur.

Nicht geliebt zu werden. Der Schmerz könnte größer
sein, Der befindet sich wohl, dessen Tür zufällt.
Aber das Fleisch, mit der Einbruchslinie am Knie,
die faltigen Hände, über Nacht gekommen alles,
das verwitterte Schulterblatt, auf dem kein Grün wächst,
Es hat einmal ein Gesicht geborgen gehalten.

Um hundert Jahre gealtert an einem Tag.
Das zutrauliche Tier ist unter dem Peitschenhieb
um die prästabilierte Harmonie gebracht
worden.

Ich weiß keine bessere Welt Unveröffentlichte Gedichte; Piper Verlag, München 2000; 195 S.

ingeborg-bachmann1

Das dreissigste Jahr

Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher; ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben. Und eines Morgens wacht er auf, an einem Tag, den er vergessen wird, und liegt plötzlich da, ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen und entblößt jeder Waffe und jeden Muts für den neuen Tag. Wenn er die Augen schließt, um sich zu schützen, sinkt er zurück und treibt ab in eine Ohnmacht, mitsamt jedem gelebten Augenblick. Er sinkt und sinkt, und der Schrei wird nicht laut (auch er ihm genommen, alles ihm genommen!), und er stürzt nicht hinunter ins Bodenlose, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte. Wenn er das Bewusstsein wieder gewinnt, (...), entdeckt er eine wundersame neue Fähigkeit. Die Fähigkeit, sich zu erinnern. Er erinnert sich nicht wie bisher (...) an dies oder jenes, sondern mit einem schmerzhaften Zwang an alle seine Jahre, flächige und tiefe (...) Er wirft das Netz Erinnerung aus, wirft es über sich und zieht sich selbst, Erbeuter und Beute in einem, über die Ortsschwelle, über die Zeitschwelle, um zu sehen, wer er war und wer er geworden ist.
Madame Bovary

BOVARY

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